Auf der Spur des Herzens-

 Stef Bos’ neue CD ‘Ruimtevaarder’

                               Rezension von Dirk Schulte

Ich möchte erzÀhlen von einen Mann, der von sich sagt, er komme aus einer Zeit, die nicht mehr existiert.
Der sagt, er habe das Chaos gesucht und gelernt, nichts zu glauben als das, was er mit eigenen Augen sieht.
Der sagt, dass er es sich selbst nicht erklĂ€ren könne, warum er eigentlich gern ein Fluss wĂ€re, der gegen den Berg an zur Quelle fließt.
Der sagt, er folge keiner Richtung, keinem Weg. Er folge keinem Licht, keinem Stern, keinem FĂŒhrer und keiner Fahne - er folge immer noch allein seinem Herzen.

Dieses Credo, entnommen dem Song "Volg Alleen Mijn Hart" (Folge nur meinem Herzen), stammt von einem Mann, den es im MusikgeschĂ€ft eigentlich gar nicht geben dĂŒrfte. Er ist subversiv, radikal, unerbittlich und geduldig. Und er hat eine Botschaft. Er ist SĂ€nger, Instrumentalist, Poet, Philosoph - vor allem aber Mensch.
Und nun ist er ein Raumfahrer ("Ruimtevaarder"), so der Titel seiner soeben erschienenen CD.
Stef Bos, geboren 1961 im niederlĂ€ndischen Veenendaal, war schon immer ein Raumfahrer. Einer, der vor allem die Innenwelten bereist, ein poetischer Berichterstatter all der Schönheit und all der AbgrĂŒnde, die uns umgeben.

Aber auch in der "Außenwelt" ist Stef Bos viel unterwegs; kreuz und quer durch die Niederlande, durch Belgien und zuweilen auch am Kap in SĂŒdafrika - seine zweite Heimat, wie er sagt - wo einige Sondereditionen seiner CDs erschienen sind.

Seit 1999 erprobt und perfektioniert er neue Songs zunÀchst in Live-Konzerten, bevor er sie im Studio festhÀlt. So sind nahezu alle Titel aus "Ruimtevaarder" schon auf der Solotour "Dichtbij" (2004) sowie auf der Bandtour "Licht" 2004/2005 prÀsentiert und zur "Reife" gebracht worden.

Das Frontcover von "Ruimtevaarder" zeigt als knallige Collage ein Close-up von Stef Bos, der offensichtlich amĂŒsiert sein Alter Ego, einen altertĂŒmlichen, auf einer Rakete sitzenden Raumfahrer beobachtet. Im Innenteil des so wohltuend an ein BĂŒchlein erinnernden Digipaks bewegt sich eben dieser Raumfahrer auf eine alte Darstellung des astrologischen Tierkreises zu. Der grafischen Umsetzung liegt eine Arbeit des Groninger ObjektkĂŒnstlers Harry Arling zugrunde.

Es ist schwer zu sagen, das wievielte Stef-Bos-Album ich in HĂ€nden halte. Es mĂŒssen bisher um die 12,13 Longplayer-Veröffentlichungen sein und mindestens noch einmal so viele Singles.
Nicht berĂŒcksichtigt ist die Armada von TontrĂ€gern, die er mit seinen Freunden veröffentlichte oder an denen er in irgendeiner Form kreativ beteiligt war.

Wie gut, dass ich die gigantische Backlist dieses Mannes nur peripher kenne; eine Tatsache, die mich nun ein wenig vor der Gefahr schĂŒtzt, gleich alles sezieren und einordnen zu mĂŒssen.
"Ein Album muss auch unabhĂ€ngig von der Historie des Schöpfers funktionieren", ĂŒberspiele ich mein Defizit, wĂ€hrend ich den CD-Player auf Zufalls-Wiedergabe schalte.
Obwohl ich bewusst nicht linear hören wollte, bekomme ich die Startnummer 1 von insgesamt 19 Titeln prÀsentiert: " Het midden I " (Die Mitte I)

"Ich stehe hier in der Mitte
Um mich herum die Welt
Die linke Seite ist blutleer
Die rechte Seite ist aus Stein
Der Eine stirbt fĂŒr einen Gott
Den der Andere fĂŒr tot erklĂ€rt
So, als ob wir vergessen haben
dass die Mitte noch existiert."


Dieser gesprochene Prolog geht unter die Haut und genau das soll er offensichtlich.
Stef Bos schreibt ihn am Tag, als der niederlĂ€ndische Regisseur Theo van Gogh in Amsterdam von einem radikalen Fundamentalisten ermordet wird. Und er rezitiert ihn am selben Abend zu Beginn seines Konzerts in BrĂŒssel.
Die Stille, die an jenem Abend in BrĂŒssel nach diesen wenigen SĂ€tzen geherrscht haben muss, ist mit HĂ€nden zu greifen.

Was kann auf solch eine bewegende Einleitung folgen?

Ich gebe meinen Plan der zufÀlligen Wiedergabe auf, springe auf Track 2 und da ist sie, diese Hymne, die wie eine Fortsetzung des Prologs mit anderen Mitteln scheint.
"Volg alleen mijn hart" (Folge nur meinem Herzen) ist, obwohl in Teilen durch eine Begegnung mit einem Menschen in SĂŒdafrika inspiriert, ein sehr autobiografischer Song, in dem Stef Bos mit einigen wenigen Pinselstrichen seine Herkunft und seinen Weg skizziert. Selbstkritisch reflektiert er, dass er die Kritiken, die er bekam, meistens verdient hat. Dass das Herz zwar getroffen, aber nicht gebrochen sei. Die Beschreibung seines individuellen Weges fĂŒhrt zur Analyse einer Gesellschaft von Liebe, Krieg und Hass, in der man einander "mit Liebe kaputt macht".
Im groovenden Refrain schließlich formuliert Stef Bos mit einfachsten Worten eine klare Absage an jegliche Dogmen und jeglichen Extremismus. Dies jedoch nicht lĂ€rmend und lamentierend, sondern eher wie jemand, der in schwierigen Prozessen ein Fazit fĂŒr sich geklĂ€rt hat und dies als Denkanstoß auch anderen mit auf den Weg geben will: Der Weg des Herzens ist die verlorene Mitte und das Gleichgewicht, das wir benötigen.
Ein Song, der sich schon allein aufgrund seiner rockig-mainstreamigen Machart als Singleauskoppelung eignet. Vor allem aber die Botschaft darin wĂŒrde der aufgewĂŒhlten niederlĂ€ndischen Gesellschaft, die sich nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh in einer tiefen IdentitĂ€tskrise befindet, sicherlich konstruktive Impulse geben.

"Voor nu" (FĂŒr jetzt) kommt mit Akustikgitarren und Mundharmonika leicht und folkig daher. Vom Brechen des Brotes und vom Trinken des Weins ist da die Rede. Davon, dass es fĂŒr jetzt, fĂŒr dieses eine Mal und fĂŒr alle Zeiten sein möge. Und davon, dass der SĂ€nger sich an sich selbst und an seinem GegenĂŒber festhĂ€lt.
Schöne Bilder, so tief und doch so flĂŒchtig. Stef Bos hat einmal gesagt, seine Songs seien Momentaufnahmen, Fotografien. Und genau solch ein tönendes Polaroid zieht gerade an mir vorĂŒber


Gleich noch ein Liebeslied schließt sich an, sparsam arrangiert mit Piano, Bass, Akkordeon und Schlagzeugbesen. "De verliefden" (Die Verliebten) erzĂ€hlt von zwei Menschen, die, weil sie nicht schlafen können, im Schatten eines Engels durch die nĂ€chtliche Stadt streunen: ihrem Verlangen folgend, flĂŒsternd, fragend.

Stef Bos gelingt es scheinbar mĂŒhelos, innerhalb dieser zweidreiviertelminĂŒtigen Miniatur eine Stimmung zu erzeugen, die neben der Romantik der Verliebtheit gleichzeitig auch die ihr innewohnende FragilitĂ€t transportiert: ".. Es ist die Angst, dass etwas vorbeigeht, obwohl es noch beginnen muss
".
In der Zeile "
und sie wissen nicht was wahr ist, aber sie trauen sich, zu glauben.." lÀsst Stef Bos die beiden genau das tun, was er in Song Nr. 2 eben noch besungen hat: er lÀsst sie ihren Herzen folgen


WĂ€hrend ich noch rĂ€tsle, was mit dem "Segen des Himmels" gemeint sein könnte, den der Autor den Protagonisten zum Schluss spendiert, geht der Song ĂŒber in einen instrumentalen Walzer, den "Wals der verliefden I" (Walzer der Verliebten I).

Ich beschließe, dass nun die Zeit fĂŒr ein geistiges GetrĂ€nk gekommen ist. Dieser Walzer ist vom allerfeinsten: mitreißend, substanzvoll und brillant gespielt.
Das Akkordeon fliegt nur so dahin, mir dreht es sich wohlig, obwohl ich erst einmal an meinem GetrÀnk genippt habe.
Die hochkarĂ€tige Band spielt mit traumwandlerischer Sicherheit; es ist zu spĂŒren, dass die Musiker wĂ€hrend ĂŒber 90 Konzerten der "Licht"-Tour die Songs wirklich durchdrungen und entschlĂŒsselt haben.
Jan van Looy (Akkordeon, Piano, Keyboards) und Francis Wildemeersch (Gitarren) sind bereits seit den 90er Jahren feste Mitglieder der Bos-Familie und waren auf nahezu allen seitdem entstandenen CDs und Band-Tourneen dabei.
Roberto Mercurio (Bass) und Martin de Wagter (Drums, Perkussion) komplettieren dieses dynamisch-organische Ensemble, in dem Stef Bos selber zuweilen Piano, Gitarre und Keyboards bedient. Das Booklet gibt leider keinen Aufschluss darĂŒber, in welchen Songs er selbst Hand anlegt.

Den "Wals der verliefden" gibt es ĂŒbrigens in drei Teilen, jeweils zwischen die gesungenen Titel platziert. Stef Bos sagt, er hĂ€tte damit einen roten Faden spinnen wollen, der unterschiedliche Gestalten annimmt. Ob dieses Album tatsĂ€chlich einen roten Faden benötigt, werde ich erst nach dem neunzehnten Song wissen.

GlĂŒcklicherweise bin ich erst bei Track Nr. 6 "Feest" (Fest) angelangt, fĂŒr mich einer der Höhepunkte auf "Ruimtevaarder".
Originalton Stef Bos zu diesem Song: "In 'Feest' beobachtet ein alter Schauspieler den Opportunismus der Anwesenden wÀhrend eines Empfanges, auf dem die Egos sich wie Schachfiguren bewegen."
Das Stilmittel der Reduktion scheint Stef Bos auf den Leib geschrieben:
"Voller Aschenbecher auf dem Tisch, Lippenstift auf leeren GlÀsern
Der Eine schaut ein bisschen in die Runde, der Andere plaudert ĂŒber Theater
"

Diese wenigen Bilder reichen aus, um mich als Hörer augenblicklich mitten ins Geschehen zu werfen, das vor Dekadenz und Eitelkeit nur so trieft: "Ich höre sie ĂŒber Kunst reden, als ob sie ĂŒber Gott sprechen
",
"
Schau, der Hofnarr redet dem König mit einem Scherz nach dem Mund
"
Bei aller Ironie bleibt Stef Bos doch zÀrtlich: "
Ich sehe sie leuchten wie Sterne an ihrem selbstgemachten Himmel
"
Dies alles eher gesprochen, erzĂ€hlt, geraunt und herrlich situationskomisch auf den Punkt gebracht. Die Band setzt diese dekadente Stimmung kongenial um und quietscht dabei vor VergnĂŒgen.
Der Song atmet ein wenig von dem skurril-ironischen Geist eines Jacques Brel, und mit dem Einsatz einer Trombone (!) lugt zuweilen ein verschmitzter Tom Waits durchs Fenster


"Dun ijs" (DĂŒnnes Eis) ist eine Fortsetzung von "Feest". Stef Bos sagt dazu: "Einer der Anwesenden vereint den Ruhm auf sich, mit der Gefahr, sich selbst um Kopf und Kragen zu spielen." Es liegt nahe, dass Stef Bos dieses Bild auf seine eigene Biografie mĂŒnzt und sich einmal mehr fragend und zweifelnd mit der BrĂŒchigkeit seiner eigenen IdentitĂ€t als Mensch und Musiker befasst:

"Die Welt liegt dir fast zu FĂŒĂŸen
Aber es ist FrĂŒhlingsanfang
Und der Winter ist vorbei
Du tanzt auf dĂŒnnem Eis"

Stef Bos sagt, er begreife diese Botschaft als Warnung an sich selbst. "Ich habe selber mehrmals auf der Grenze balanciert, in dem das Lied dem SĂ€nger diente und ich der Meinung bin, dass es genau umgekehrt sein muss."

Diese Selbstreflexion mĂŒndet jedoch nicht etwa in eine Elegie voller Mollakkorde, sondern in einen beschwingten jazzigen Walzer, der die Poesie perfekt transportiert und das Bild des Tanzes aufrechterhĂ€lt.
Und wie so oft hinterlĂ€sst Stef Bos statt vorgefertigter Antworten leise und weise Fragen, die ganz unmerklich seinen eigenen individuellen Horizont verlassen, um den Erfahrungshintergrund der Hörer zu berĂŒhren:

"Wo gehst du hin
Wer zeigt dir den Weg
Wer willst du sein
Wo liegt die Grenze
Wohin geht die Reise
Wer bezahlt den Preis
Du tanzt auf dĂŒnnem Eis"

Szenenwechsel. Ende der 90er Jahre bereist Stef Bos Albanien, Mazedonien und den Kosovo. Im Jahr 2000 wird er dort noch einmal sein und in der Folge seiner EindrĂŒcke drei bewegende und anklagende Songs schreiben, die er schließlich auf dem Album "Donker en Licht" (Dunkel und hell) im Jahre 2003 veröffentlicht.

WÀhrend seiner ersten Reise lernt er Fabiola kennen, Mitarbeiterin einer Frauenorganisation, die den Frauenhandel bekÀmpft. Aus ihren Schilderungen entstand "De ware liefde" (Die wahre Liebe), Stationen eines Leidensweges, der im Europa des 21. Jahrhundert tÀgliche und traurige Wirklichkeit ist.

ErzÀhlt wird die Geschichte einer jungen Frau, die von MenschenhÀndlern mit falschen Versprechungen auf die andere Seite der Adria gelockt wird.
Stef Bos beobachtet ihre Abfahrt, voller Hoffnung auf ein besseres Leben.
Doch als sie am Kai steht und der vermeintliche Geliebte kommt, "verschwindet die Sonne und es fĂŒhrt kein Weg zurĂŒck. Es regnet in KĂŒbeln, in KĂŒbeln vom Himmel
"
Und nun?
"Sie steht da an den Straßen von BrĂŒssel und Berlin, sie kennt die MĂ€nner, die sich besser benehmen, als sie sind
der erste ist unsicher, der zweite ist betrunken, der dritte trĂ€umt von einem Feuer, das schon vor Jahren erloschen ist. Und das Geld ist fĂŒr den Scheißkerl, der ihr das Blaue vom Himmel versprochen hat."

Es ist kein Zufall, dass Stef Bos diesen Text mit einem Blues verbindet, ist doch der Blues seit jeher die Musik der UnterdrĂŒckten und Geknechteten. Die Band brodelt und kann ihren Zorn nur schwerlich im Zaum halten. Die atmosphĂ€rische Dichte von Text, Gesang und Musik nimmt mich gefangen. Eine ganz und gar zeitgemĂ€ĂŸe Form des politischen Lieds. GĂ€nsehaut pur.

Mit "Droom" (Traum) hat es ein zehn Jahre alter Song auf "Ruimtevaarder" geschafft. Als er erstmals im Jahr 1995 auf "Schaduw in de Nacht" (Schatten in der Nacht) erschienen, hieß er "Vrouwen an de macht" (Frauen an der Macht).
Nun hat Stef Bos diesen Song - offensichtlich in Reaktion auf die VorgÀnge in den Niederlanden - musikalisch "orientalisiert" und auch textlich ein wenig verÀndert.
Auf humoristische und leicht zugÀngliche Weise beschÀftigt sich der Song mit der Geschlechter- und Emanzipationsfrage. ErzÀhlt wird ein Traum, in dem der "Wachwechsel" vollzogen wird:

"
Die Regierung war gefallen
Vor dem Gesetz der weiblichen Schönheit
Der General brachte nur noch
Die Kinder in die Schule







Es war schöner als ich dachte
Was ich heute Nacht sah
"

Die eigentliche Botschaft liegt fĂŒr mein Empfinden nicht im Refrain "Frauen an der Macht", sondern versteckt sich in der Zeile "Aber Herren, alles muss sich verĂ€ndern und es wird langsam Zeit fĂŒr einen Wachwechsel
"

Auf "Ruimtevaarder" hat sich Stef Bos erstmals gegen Gastmusiker entschieden, weil er auch im Studio die Livesituation möglichst unverÀndert erhalten wollte.
In "Droom" macht er eine einzige kleine Ausnahme: die sĂŒdafrikanischen SĂ€ngerinnen Wes Lee und Stella Khumalo intonieren orientalische Tonskalen und komplettieren damit das neue Arrangement, das u.a. mit östlichen Perkussionsinstrumenten unterlegt ist.

Stef Bos hat sich zu dieser neuen Version nicht öffentlich geĂ€ußert. Es kann nur gemutmaßt werden, dass er den Song als seinen Beitrag zur (von Theo van Gogh maßgeblich mitinitiierten) kritischen Auseinandersetzung mit der Frauenrolle im Islam sehen möchte.


Szenenwechsel. Als im August 2004 der niederlĂ€ndische Schwimmer Pieter van den Hoogeband bei den Olympischen Spielen in Athen Gold gewinnt, landet zur selben Zeit ein aus dem Irak kommendes MilitĂ€rflugzeug in den Niederlanden, aus dem ein Sarg heraus getragen wird. Der Name des junge Mannes: Jeroen Severs. Beide Ereignisse werden in den Medien groß aufgemacht.

Stef Bos: "Das Bild einer niederlĂ€ndischen Fahne, die auf dem Sarg drapiert war und zur gleichen Zeit die gleiche Fahne, die fĂŒr den Sportler gehisst wurde, veranlasste mich zum Schreiben dieses Liedes."
Der Song "Welkom Thuis" (Willkommen zu Hause) ist eine dieser leisen Stef-Bos-Hymnen, die man auch nach Jahren nicht vergisst.
Auf der einen Seite der gefeierte Sportler, auf der anderen Seite das Opfer eines sinnlosen Krieges:

"..Das Vaterland hat an diesem Tag
Gold gewonnen
Die Nationalhymne klingt so schön
Wenn jemand gewonnen hat

Aber du, du hast verloren
Und liegst unter der Fahne
Die spÀter gehisst wird
FĂŒr den Helden an diesem Tage

Die Menge teilt die Freude
Der Sportler bekommt den Preis
Acht MĂ€nner trugen dich heute Nacht
Aus dem Flugzeug heraus

Willkommen zu Hause
."

Eine traurige Geschichte. Eine wahre Geschichte. Eine, die fĂŒr mich mehr aussagt ĂŒber den "beschissenen Schwachsinn des Krieges" (Jacques Prevert) als viele antimilitaristische Kampflieder.
Und weiter heißt es: "Die Soldaten machen die Drecksarbeit, der PrĂ€sident beschließt. Ich höre, wie er noch immer durchhĂ€lt, obwohl er sich geirrt hat."

Stef Bos ist radikal in seiner Offenheit. Er versteckt sich nicht hinter seinen SĂ€tzen, auch und vor allem nicht, wenn es ihn selbst betrifft. Und schonungslos konstatiert er am Schluss des Songs:
"Die Welt ist verÀndert, der Wind hat sich gedreht. dieses Land, in dem ich geboren bin, es ist mir manchmal fremd."


Und als wolle Stef Bos das "Welkom Thuis" noch ein wenig nachklingen lassen, reduziert sich der instrumentale "Wals der verliefden II" (Walzer der Verliebten II) auf eine meditative Variation des Themas, gespielt allein vom Piano. Der Walzertakt ist verflogen, die Verliebten halten einen Moment inne



Die verhaltene Form des vorangegangenen Walzers stimmt ein auf "Jericho",
in dem Stef Bos das Scheitern einer Liebe schildert. Lediglich vom Piano begleitet, muss er einsehen, dass er nicht in der Lage ist, die Mauer zu durchbrechen, die sein GegenĂŒber errichtet hat.

"Du lebst verborgen in deiner Welt
Verschlossene TĂŒren, Stadt aus Stein
Auch wenn ich bis zum Morgen singe
Ich dringe mit keiner Stimme zu dir durch
"

Und so wehmĂŒtig und nachdenklich, wie er begann, endet der Song:

"Unsere Zukunft wird Vergangenheit
So oft ich auch meine HĂ€nde falte
Ich kann die Mauer nicht brechen
Die du um dich gebaut"

Da ist sie wieder, diese einfache, klare Sprache, die immer ihren Weg findet. Und ich frage mich wieder, wo genau der Moment ist, der sie zur Poesie macht. Ist es der Augenblick, in dem Geschriebenes intoniert und gesungen wird? Ist es im besten Fall die Synthese aus Text, SĂ€nger und Musik? Und welche Rolle spiele ich als Rezipient dabei?
Vermutlich mĂŒssen diese Fragen mit jedem neuen Song erneut gestellt werden. Und dennoch werden wir diesem Geheimnis nie auf die Spur kommen.
Vielleicht ist es auch gut so



"Und immer wenn du denkst, das ist das Ende
Stehst du an der Grenze zu einem Anfang.."

Diese ersten Verse aus "Duizend jaar" (Tausend Jahre) lassen mich langsam erkennen, wie sehr die Songs auf "Ruimtevaarder" miteinander kommunizieren.
War gerade eben noch vom Erlischen des Feuers die Rede, so geht’s nun groovig und rockig steil bergauf. Plötzlich wird "..aus der Stille eine neue Stimme geboren und du fĂŒhlst, wie ein anderes Gleichgewicht entsteht..",

Ist das noch derselbe Stef Bos aus dem vorherigen Song? Na klar, er ist es und genau das macht ihn aus. Er ist einer, der "reingeht" in die Emotionen. Einer, der keine Scheu davor hat, sie sich und der Welt zu zeigen. Nicht mit Pauken und Trompeten, sondern still und unaufgeregt:
"
Und aus dem Dunkel kommt die Liebe zum Vorschein
Das Verlangen schließt sich selbst nicht lĂ€nger ein.."

Stef Bos zur Entstehung von "Duizend jaar":
"Das Lied ist im Herbst 2004 im Waasland, wo ich wohne, entstanden. Von meinem Fenster aus blickte ich auf eine Reihe Pappeln, die ihre BlĂ€tter im Wind verloren. Ich sah plötzlich den Wechsel der Jahreszeiten und wie relativ das Ende ist. Dachte an diejenigen die nicht mehr hier sind und verspĂŒrte eine Lebenslust, die in diesen Text mĂŒndete. "

Stef Bos hat entgegen gÀngiger Studiopraxis seine Stimme gleich mit den Musikern aufgenommen, anstatt sie spÀter "auf" die Instrumentalspuren zu singen. Eine gute Entscheidung.
Die hierdurch entstandene unmittelbare NÀhe und SynchronizitÀt zwischen SÀnger und Band fÀllt mir in diesem Song besonders auf.


Mit "Dolfijnen" (Delphine) folgt ein weiterer relaxter Song, in dem es um eine Szene am Meer geht. Stef Bos erzĂ€hlt von der Macht des Mondes, der bei ihm die weibliche (und ursprĂŒngliche) Form der "Mondin" bekommt.
Er erzÀhlt von Delphinen im Meer und von ebensolchen in seinem Bauch. Pure Poesie fernab aller Denke.
All das zu entspannter Musik mit sĂŒdlichen Marimba- und Vibraphonelementen.
Aber wie so oft hat auch dieser Song eine spezielle Geschichte.

Stef Bos: "Der Refrain dieses Liedes entstand Anfang der neunziger Jahre in einem Zug Richtung MĂŒnchen. Ich war ein paar Stunden lang verliebt in ein MĂ€dchen, das mir gegenĂŒber saß. Zehn Jahre spĂ€ter an der belgischen KĂŒste schoss mir diese Begebenheit wieder in den Kopf und fand in diesem Lied seinen Ausdruck. Die Musik dazu entstand wieder ein paar Jahre spĂ€ter wĂ€hrend der Nah-Theatertour. Einige Worte wurden von einem auf den anderen Moment geboren, andere Worte brauchten etwas lĂ€nger bis sie ausgetragen waren."

Und so ist das, was auf Anhieb wie "aus einem Guss" klingt, in Wahrheit ein ĂŒber die Jahre gesammeltes und sorgsam gehortetes "Magazin" aus Erlebtem, Erinnertem und Gedichtetem, das irgendwann zu einem Mosaik wurde.

Am Ende des Songs gesteht Stef Bos sich ein, dass er zuviel denkt. Er blĂ€ttert in einem Wörterbuch, wo er nicht findet, wonach er sucht. "
Die schönsten Worte sind nicht schön genug." Schön.


Der Titelsong "De ruimtevaarder" (Raumfahrer) ist fĂŒr mich einer der ausdrucksstĂ€rksten Songs dieses Albums. Begleitet nur von einem Piano und einem Synthesizer, entwirft Stef Bos seine persönliche Fassung der alten Vision vom Fliegen.
Er sagt, dass er nicht wisse, ob er fliege oder falle, dass die Verbindung abgebrochen sei und dass er dort tanzen wolle bis ans Ende seiner Tage. Er sagt, er folge einem Kurs, den er nicht kenne und dass er das Recht habe, sich zu verirren - so könne er werden, wer er sei.
Er sagt, er habe sich selbst losgelassen und sei am Wendepunkt vorbei. Er sagt, er habe seine Stadt und sein Land verlassen, er gebe sich dem Raum und der Zeit hin.

Eine phantastische Geschichte. Und doch auch so real, wie TrÀume und Visionen eben sein können. Stef Bos setzt hier einen Kontrapunkt zu allen anderen Texten auf "Ruimtevaarder". Es lÀsst die Wirklichkeit los, gestattet sich und uns den Blick von oben. Er ist allein, aber nicht einsam. Und dort oben, wo er schwebt wie ein moderner Juri Gagarin, scheint er eine Sache gar nicht zu bedauern:
"Hier haben Worte wenig Wert,
Hier haben Worte kein Gewicht."


Im "Wals der verliefden III" (Walzer der Verliebten III) sind die Musiker nun wieder zum Walzertakt zurĂŒckgekehrt. Die E-Gitarre hat jetzt die FĂŒhrung ĂŒbernommen, wĂ€hrend das Piano einen angenehm wohligen Teppich zaubert. Genau die richtige Stimmung, um noch mal am Glas zu nippen.
Ob die drei Walzer tatsĂ€chlich ein "Roter Faden" sind, weiß ich noch immer nicht - sicher ist, sie verschaffen eine Atempause in einem sehr dichten Werk.


Das Lied "Hillbrow" widmet Stef Bos dem im Jahre 2002 verstorbenen sĂŒdafrikanischen Musiker Johannes Kerkorrel, der es auch geschrieben hat.

Stef Bos: "Hillbrow war ein Stadtteil in Johannesburg, in dem verschiedene Rassen zusammenlebten. Obwohl das durch das Gesetz verboten war. Ende der achtziger Jahre Ă€hnelte Hillbrow dem Berlin der zwanziger Jahre mit seinem brausenden Leben. In diesem Viertel lebten viele KĂŒnstler, die sich gegen das Regime wehrten. Durch dieses Liebeslied fĂŒr Hillbrow drĂŒckte Kerkorrel aus, wofĂŒr er stand und setzte dadurch seine Gegner schachmatt. Er war derjenige, der mir das Land SĂŒdafrika zeigte. Er war ein GefĂ€hrte, der mich dort fĂŒhrte, wo ich eine zweite Heimat fand."

Auch dieser in Afrikaans geschriebene Song ist definitiv eine Hymne. Er erzĂ€hlt vom bunten und inspirierenden Leben in Hillbrow. Er nimmt uns mit in die Straßencafes und Wimpy-Bars, wir sehen die barfĂŒĂŸigen Kinder, die fĂŒr eine MĂŒnze ParkplĂ€tze anweisen. Wir schlendern vorbei an Hare-Krishna- und Jesusfreaks, vorbei am "Hillbrow-Record-Shop" und am kleinen Bookstore. Wir hören die Musik von ĂŒberall und sitzen mit den Menschen, die gelernt haben, dort zu ĂŒberleben, weintrinkend in der Sonne.
Sie alle geben, wie es im Refrain heißt, ihre TrĂ€ume, ihre Zukunft und ihr Herz fĂŒr Hillbrow.

Stef Bos singt diesen Song so zĂ€rtlich, als hĂ€tte er ihn selbst geschrieben. Als ginge es um ein ihm vertrautes Viertel Amsterdams. Diese NĂ€he und ZĂ€rtlichkeit lĂ€sst erahnen, wie sehr ihm inzwischen SĂŒdafrika und seine Menschen zweite Heimat geworden sind.


Mit "Samen staan we sterk" (Zusammen sind wir stark) definiert Stef Bos das "Wir-GefĂŒhl" aus "Hillbrow" noch einmal von einer sehr persönlichen Warte aus:

"Ich habe es oft gedacht
Besser lÀufts allein
Aber Einzahl beschrÀnkt
Zusammen sind wir stark"

Auch wenn der Titel gewisse Assoziationen hervorruft, hat dieser langsame, zum Piano intonierte Song so gar nichts gemeinsam mit den oft allzu platten "SolidaritÀtsliedern", in denen der Hörer aufgefordert wird, sich kÀmpfend einzureihen.
Hier spricht jemand, der aus Erfahrung weiß, wie schwierig und fast unmöglich der Weg des EinzelkĂ€mpfers ist. Jemand, der erkannt hat, dass gemeinsames Handeln nicht notwendigerweise den Verlust von IndividualitĂ€t bedeutet.

"Es ist die Einzahl in der Mehrzahl
Du findest es nicht, wenn du danach suchst
DafĂŒr musst du niemandem folgen
Es kommt manchmal ganz von selbst zu dir.."

Dieser vorletzte Song auf "Ruimtevaarder" ist eine Aufforderung zu mehr Offenheit,
die frĂŒher oder spĂ€ter, wie Stef Bos sagt, in Gemeinsamkeit mĂŒnden wird.

Und als wolle er diese Aussage noch einmal bekrÀftigen, rezitiert Stef Bos in
" Het midden II" (Die Mitte II) diesen schonungslos klaren Text, mit dessen erster Strophe er diese CD eingeleitet hat.
Er sagt, dass keine Seite wĂ€hlbar sei, dass sie uns was vormachen. Er sagt, dass wir alles ausschließen, was uns noch retten kann. Dass wir Angst haben zu verlieren, was schon lĂ€ngst verloren ist. Und dass wir nicht sehen, dass der Ausweg offen vor uns liegt.
Stef Bos wendet sich hier vehement gegen einen Dualismus und eine Schwarzweiß-Malerei, die auf extremen Positionen grĂŒndet. Er macht sich stark fĂŒr die Mitte, die Balance, das Gleichgewicht.

Die Band ist hier noch ein letztes Mal verhalten zu hören, die Musiker werfen einige Akkorde ein, wÀhrend Stef Bos konstatiert: "Wir sind zu wenig zusammen, wir sind zu viel allein."

Die letzten Worte auf "Ruimtevaarder" klingen in meinen Ohren wie eine sanfte Aufforderung, diesen Zustand zu verĂ€ndern. Und Stef Bos wird nicht mĂŒde, immer wieder seine Wege dorthin, die möglicherweise auch unsere sein könnten, aufzuzeigen.


"Ruimtevaarder" ist fĂŒr mich ohne Zweifel ein starkes Album. Songs, mit denen Stef Bos aufs Neue ĂŒberrascht. Überrascht mit seiner NĂ€he, seiner Direktheit. Mit seiner Zuversicht, aber auch mit seinen ehrlichen Zweifeln, die nicht selten auch meine eigenen sind.
Wenn ich einen roten Faden definieren sollte, wĂ€re es fĂŒr mich der Slogan "Folge nur meinem Herzen", der alle Songs - mal sichtbarer, mal versteckter - durchzieht.
Vielleicht ist dies der rote Faden in Stef Bos' Arbeit ĂŒberhaupt.
Musikalisch auf hohem Niveau, kann ich die Kontemplation und IntimitÀt der Live-Konzerte gut nachvollziehen. Dabei scheint mir die Band weniger als eingeschworene Gemeinschaft denn als seelenverwandte Familie.

Klar ist auch, dass sich dem Hörer solch ein Werk, fĂŒr dessen Entstehung sich Stef Bos viel Zeit gelassen hat, nicht in 58:41 Minuten Spielzeit erschließt. Und so freue ich mich darauf, nach und nach neue Aspekte zu entdecken.

"So viel was du siehst noch nicht geschrieben
" singt Stef Bos in "Duizend Jaar" (Tausend Jahre).
Mit den Songs auf "Ruimtevaarder" hat er die Liste des Ungeschriebenen ein StĂŒck kĂŒrzer gemacht - schön fĂŒr ihn und schön fĂŒr uns

HĂ€tte ich nun einen Befehl frei, wĂŒrde der lauten: kaufen!!

Dirk Schulte


Bedanken möchte ich mich bei Peter Mioch, der mich mit dem Werk von Stef Bos bekannt gemacht hat.
Alle von mir verwendeten und kursiv gesetzten TextauszĂŒge sowie die Stef-Bos-Statements wurden von ihm ins Deutsche ĂŒbersetzt.
©Rezension: Dirk Schulte

Dirk Schulte, geboren 1955 in Arnsberg (NRW), ist Musiker aus Leidenschaft. Nach einer Ausbildung als BuchhĂ€ndler lebt er 1977/78 als Straßenmusiker in Köln.
1978 an der Musikakademie in Eupen/BĂŒtgenbach (B), jobbt er in der Folge unter anderem als Marktschreier, Bauarbeiter, Ghostwriter, Verlagsmanager, Schauspieler, Schallplatten- und GemĂŒseverkĂ€ufer.

Ab 1981 ist er dreizehn Jahre lang als Frontmann der Rockband „Sport im Westen“, aber auch mit Musik & Poesie-Programmen und Chansons unterwegs.
1983 veröffentlicht er seine erste Schallplatte.
In den 90er Jahren gibt er mit der Band "Dirk Schulte & GefÀhrten" Konzerte auch
in den Niederlanden und Belgien.

Er arbeitet fĂŒr und mit verschiedenen Formationen im Bereich New Jazz und Neuer Musik. So entstehen Rundfunkaufnahmen und CD-Produktionen mit dem Komponisten JĂŒrgen Sturm und mit dem international besetzten "Ornament & Crime Arkhestra" (u.a. mit Viola Kramer, Nadine Bal, Han Buhrs und Lukas Simonis).

Die Konzeption und DurchfĂŒhrung medienpĂ€dagogischer Pilotprojekte ist ein weiterer Schwerpunkt in Dirk Schultes Arbeit. So initiiert er seit 1989 zahlreiche antirassistische und interkulturelle Musik-Projekte und CD-Produktionen mit Jugendlichen und Erwachsenen aus Deutschland, den Niederlanden und Belgien.

Dirk Schulte lebt heute als Songwriter, MedienpÀdagoge, freier Produzent und Autor in Aachen.

Dirk Schulte hat diese Rezension ursprĂŒnglich fĂŒr das Liedermacher-Forum verfasst. Ihm ist mit dieser Rezension eine informative, treffende deutschsprachige Beschreibung und Beurteilung sowohl des Schaffens des niederlĂ€ndischen Singer/Songwriters Stef Bos, als auch seiner neuen CD Ruimtevaarder gelungen. DafĂŒr möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bei ihm bedanken.                    Peter Mioch/8.11.2005

Link zum Stef Bos Niemandsland: www.stefbos.nl

Link zur Homepage von Dirk Schulte

 Ăœbersetzungen der Liedtexte der CD  Ruimtevaarder

Links zu anderen Alben und den Übersetzungen der Liedtexte:

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